Predigt über Mk 8, 22-26, Heilung eines Blinden

Von Bert Gedenk – Gröne Stee Emden, 19.2.2023

 

22 Als sie nach Betsaida kamen, brachten die Leute einen Blinden zu Jesus. Sie baten ihn, den Mann zu berühren und ihn so zu heilen. 23 Jesus nahm den Blinden bei der Hand und führte ihn aus dem Dorf hinaus. Dann strich er etwas Speichel auf seine Augen, legte ihm die Hände auf und fragte: »Kannst du etwas sehen?« 24 Der Mann blickte auf. »Ja«, sagte er, »ich sehe Menschen herumlaufen. Aber ich kann sie nicht klar erkennen. Es könnten genauso gut Bäume sein.« 25 Da legte Jesus ihm noch einmal die Hände auf die Augen. Jetzt sah der Mann deutlich. Er war geheilt und konnte alles genau erkennen. 26 Aber Jesus befahl ihm: »Geh nicht erst in das Dorf zurück, sondern geh gleich nach Hause!« (aus Bibel: „Hoffnung für alle“)

 

Liebe Gemeinde,

im Hebräerbrief, einem anderen Buch im neuen Testament, wird Jesus der „Erstgeborene der neuen Schöpfung Got­tes“ genannt. Was tut Jesus hier bei der Heilung des Blinden als neuer Mensch einer neuen Mensch­heit und Welt?  Was uns hier bei Mk in sieben kleinen Schritten erzählt wird, ist im Grunde gar nichts hoch Religiöses, Hochgeistliches, es ist vielmehr kör­perlich spürbar, jedenfalls für den Blinden. Und vielleicht auch für uns!

  • Jesus nimmt den Blinden an seine Hand. Hand spürt Hand, auch ohne Augen. Deine Hand ist mein Auge! Ich sehe durch dich. Hand in Hand und nicht jeder für sich, so geht es sich leichter, so geht es heraus aus dem Dorf, aus der alten, blinden und toten Welt in eine neue!
  • Jesus bewegt den Blinden durch Berührung und Bewegung seines Körpers. Raumveränderung, ganz körperlich! Wie gut tut oft ein Orts­wechsel! Neue Sicht auf alte Dinge. Neue Sicht für Neues. Befreiung aus alten Rollen, Bindungen und Selbstbildern. Ein bewegter Körper bringt Bewe­gung ins Leben, in mein Leben.
  • Jesus streicht seinen Speichel auf die toten Augen des Blinden. Wie Salbe gegen das vertrocknete Blickfeld. Und Zugleich: intimste, zar­teste Berührung und Nähe:  Austausch von Körperflüs­sigkeit. Eke­lig? Oder eine kühlende Wohltat, Zeichen einer eng verbundenen Liebe und Zuwendung? Der Blinde wird’s wissen!
  • Jesus legt dem Blinden seine Hand segnend auf. Wärme auf Kopf und Schulter. Wahrnehmung. Wertschätzung. Seine wahre Größe spüren durch das leichte Gewicht einer Hand auf mir. Auch Schutz! Auf­rich­tende Kräfte strömen über Haut und Haar direkt in die Seele.
  • Jesus spricht den Blinden an: „Siehst Du schon etwas?“ Siehst Du?“ Wirklich Du!? Aus einem blinden „Etwas“ wird ein gesehener, angesehener „Jemand“. Worte strei­cheln sein Ohr, sein Herz. Energie fließt. Und Sorge ist da, Sorge um ihn, persönliche Sorge um seine Besserung. Wie gut, sich ganz und gar umsorgt zu wissen.
  • Doch die Sicht bleibt noch unklar, er sieht vor lauter Baum den Menschen nicht. Darum legt Jesus dem Blinden die Hand noch ein­mal auf, gezielt auf seine Augen. Be­rührung an seiner schlimmsten, kranksten Körperstelle. Berührende Berührung. Das Schreckliche erfährt Zärt­lichkeit, fast schmerzhaft schön. Erlösend: Endlich mag mich jemand genau dort anfassen, wo ich am häss­lichsten bin, wo alle andere wegsehen! Mein Blindsein – kein Tabu mehr! Ich selbst – kein Tabu mehr! Jemand hat mein ganzes Elend wirklich ganz be­rührt, das Elend und mich selbst zärtlich in seine Hand genommen, wie ein Beinstumpf, den man streichelt.

Jetzt erst wird mir alles klar! Ich sehe! Ich sehe mich, das Leben, wie ich noch nie gesehen habe. Mein Kör­per, mein Leben, hässlich, behindert, und dennoch zärtlich berührt, gewürdigt, ja geheiligt und geheilt durch Liebe für Seele und Leib. Ich kann die Menschen sehen! ich kann den Men­schen sehen, klar und deut­lich, was Menschsein heißt und wirklich zählt und hilft! Gebrechliches Leben wird gesegnet, kann sich selbst als gesegnet wahrnehmen, erkennen, sich annehmen, sich selber lieben, weil es von Gott geliebt wird.

  • Am Ende nur noch die klare Ansage Jesu: „Geh nicht wieder zurück in dein altes Leben, nicht zurück in die leibfeindliche, körperlose Einsamkeit. Nicht in die Gemeinschaft der Blinden, die den Blinden nur als Gesunden lieben können. Du hast etwas Besseres verdient, etwas Besseres er­fahren, gespürt, erkannt, ein besseres Zuhause für Leib und Seele. Du hast Gott erlebt, den Lebendigen und Barmherzigen!

Liebe Gemeinde, ich habe mich gefragt, was macht diesen Jesus ei­gent­lich so besonders, dass sich Menschen auch nach 2000 Jahren noch um ihn scharen, selbst wenn sie mit Kirche und Religion vielleicht nicht mehr viel am Hut haben? Was ging und geht immer noch von diesem Men­schen aus? Was bedeutet er für uns Menschen heute? Dass er Wunder tun konnte?! Nein, das wird uns hier eher nur am Rande er­zählt, mit einem fast schon belanglosen Halbsatz: „und konnte alles genau erkennen.“ Mehr erfahren wir nicht.

Es geht dem Erzähler offenbar um etwas ganz anders. Es geht um die Beschreibung eines durch und durch sinnlichen, körperlichen, leibli­chen und gemeinschaftlichen Lebens von Mensch zu Mensch, um Begeg­nung und Gemeinschaft, sogar bis in unsere tiefsten Empfindungen von Ab­scheu und Ekel hinein: um körperliche Nähe, gerade zu Menschen, die man besser nicht sieht und berührt. Es geht um menschliche Berüh­run­gen von Hässlichkeiten und Wunden, mit denen man nicht gerne Kontakt hat. Es geht um die Berührung des eigentlich Unberührbaren, um eine sol­che Nähe zum Menschen, die alles behinderte, kranke, elende, kör­perliche wie seelische Leiden, endlich nicht mehr flieht wie der Teufel das Weihwasser, sondern die gerade dieses Angstmachende geradezu himmlisch sucht und zärtlich umfasst. Es geht um Nähe, die den gan­zen Menschen sehen, ja, selber spüren will, mit all seinen Gebrechen, mit all seinen Sorgen, Nöten und Bedürfnissen. Es geht um unsere leiblich-see­lische Ganzheit, die auch und gerade das Hässliche und Bedrohliche an uns Menschen radi­kal durch körperliche Berührung und anrührende An­sprache, ernstnimmt und annimmt.

Der „Erstgeborene der neuen Schöp­fung Gottes“! Gottes neue Welt ist ra­dikal irdisch, körperlich, sinnlich. Nichts Menschliches ist Jesus fremd oder fern. Wer also wirklich von Gott und seiner Welterneuerung reden will, sie selber erleben will, der kann sich seit Jesus nicht mehr in schön­geistige Höhen verflüchtigen, nicht in heiligen Sakralräumen verschan­zen, sich nicht hinter dem Traum des perfekten Idealmenschen verste­cken, nicht in sterile Sicherheiten vor Berührung und drohender Anste­ckung flüchten oder Schönwetterre­den schwingen über „den Menschen als solchen“. Diesen Menschen gibt es nicht!

Der Mensch ist in der Bibel keine von al­lem Makel gereinigte Idee. Der Mensch, das erzählt uns die Bibel von der ersten bis zur letzten Seite, ist ganz und gar Leib, ist Erde, und darum immer auch eingeschränk­ter, behinderter, kranker und gebrechlicher Leib, aber eben zugleich: von Gott erschaffen und beatmet. Von Gott ge­segnet. Endliche Erde, aber unendlich geliebt, auch und gerade in der Einschränkung und Behinderung!

Ich weiß nicht, liebe Gemeinde, ob wir das alle merken:  Was uns hier von Mk so leidenschaftlich leiblich erzählt wird, steht gegen vieles, ja fast alles, was unsere westliche Hochleistungs- und Hochglanz­kultur uns vom Menschen – und wie er am besten sein soll  oder zu sein hat – erzählt wird!

Jesus ging es gegen jeden hochgeistigen Idealismus um echte, also kör­perliche, leibliche und damit leibhaftige Be­gegnung und Gemeinschaft mit dem wirklichen Menschen, in allen seinen Höhen und Tiefen. Es ging ihm um die körperliche und seeli­sche Teilhabe der Abgestoßenen am Le­ben, und um eigene Teilhabe am Leben und Leiden der Abge­sonderten. Es ging ihm um die eigene körperlich-seelische Überwindung von Entfremdung, von Einsamkeit, Isolation und Ekel, in seinem eigenen Leben und Tun, Überwindung von scheinbar unüberwindlichen Grenzen, hin zum ge­brechlichen, zum vom Leben und Lieben abgeschnittenen Menschen.

Wir fragen jetzt vielleicht: Aus welcher Kraft heraus konnte er das? Und schon diese Frage zeigt unsere tiefe Entfremdung von allem Körperli­chen und Leiblichen unseres eigenen Lebens.

Natürlich kommt die Kraft aus der Liebe (vgl. Lesung: 1. Kor 13), aus jener Liebe z.B., die einen jun­gen Vater, der bisher immer am sauberen Schreibtisch im vollklimatisierten und Allergiker freundlichen Büro saß, aber jetzt in Elternzeit die volle Windel seiner neugeborenen Tochter wechseln lässt. Gewiß nicht leicht, für manchen eine enorme Überwindung, ich spreche aus eigener Erfahrung. Aber der Blick in die wunderbaren Augen der Tochter oder in ihr wehrloses und zugleich gewinnendes Lä­cheln, die Berührung ihrer zarten Haut, das Erleben ihrer schutzlosen Be­dürftigkeit, dieses rein körperliche Erbarmen ist einfach stärker als alles, was die väterliche Nase wahrnimmt!

Die gleiche Liebe trägt und bewegt eine Pflegekraft, einer alten Dame im Heim immer wieder freundlich das Essen anzureichen, auch wenn manches danebenkle­ckert und ihr etwas wieder aus dem Mund läuft. Aber diese Pflegerin hat offenbar nicht vergessen, was sie schon früh bei Ihren Eltern oder später in ihrer täglichen Leib-Seele Arbeit im Heim gelernt hat: „Die alte Dame, das werde ich selbst einmal sein! Ja was macht denn dann noch das biss­chen Sabbern und Kleckern?  Der Mensch zählt, nur der Mensch mit Seele und Leib, und allen seinen Gebrechen. Es werden auch bald meine sein!“

Immer wieder geht es im Leben um Bindung. Berührung. Körperliche und sinnliche Nähe. Um die Möglichkeit, ja, die mit Jesus längst begonnene Wirklich­keit einer gänzlich neuen, körperlichen Welt und Liebe! Liebe zum Men­schen, wie er wirklich ist. Der Himmel des Menschlichen lebt mit Jesus gerade in den dunklen Abgründen der Welt.

Aber warum erzähle ich das alles überhaupt? Weil ich zur Zeit eine ganz andere Welt und Entwicklung erlebe, liebe Gemeinde. Vielleicht Ihr ja auch: Wenn ich z.B. bei einer Behörde anrufe, ist ein Anrufbeant­worter dran, und ich weiß nicht, ob ich jetzt Taste 1 oder 2 oder 3 drücken soll, weil mein Anliegen gar nicht in das vorgegeben Raster passt. Ich kann aber heute niemanden anderen mehr fragen, am anderen Ende ist nur eine Ma­schine, von Menschen gemacht, aber letztlich ohn-menschlich.

Wenn ich zur Bank gehe, stehe ich vor einem Automaten, der aber nicht alles kann und weiß. Doch wenn ich an den Schalter gehe, sagt man mir, wie es am Auto­maten viel schneller geht, statt mir einfach persönlich zu helfen.

Ich gehe zur Post, die es in Emden gar nicht mehr gibt, wie ich lernen musste, und bekomme dort den Rat, meine 800 Umschläge für den Osterbrief an die Ge­meinde doch am besten übers Internet zu frankieren und selber abzusenden. Am Schalter ginge das nicht mehr.

Ich gehe zu Obi und werde von einer Mitarbeiterin an die neue Kasse gebeten, wo ich jetzt die Ware auch ohne Kassiererin selber einscannen und bezahlen kann. Die Frau ist sogar stolz auf die neue Technik und merkt gar nicht, dass ihr Arbeitgeber sie lang­sam aber sicher überflüssig macht.

Ich höre von Pflege­robotern, die in Japan schon alte Menschen abfüttern und ihnen vor­lesen, und mir graut vor dem, was sie an mir wohl noch ausprobieren, wenn ich mich nicht mehr wehren kann.

Ich lese jetzt sogar von einer neuen Software, einem Computerprogramm, dem ich sagen kann: „Schreibe mir ein romanti­sches Frühlingsgedicht in 150 Wörtern oder eine aufrüttelnde Predigt über Jesaia und seine scharfe Kritik an den Reichen, die immer noch mehr Arme und Kriege auf dieser Welt produzieren. Und die Maschine macht es! Das Er­gebnis ist kaum noch von einem Menschenwerk zu unterscheiden! Und es geht viel schneller, als ich es je könnte! Und bald wird vielleicht auch unsere einzigartige Adrienn an Orgel und Klavier durch einen „Musik-Ava­tar“ ersetzt, durch eine sprechende, elektronisch projizierte Kunstgestalt also, die aber genauso aussieht und spricht wie sie! Aber: die Elektronik wird niemals so schön spielen können wie sie, weil der Avatar dafür viel zu perfekt sein wird, ohne jede Seele!

Und auf der Kanzel steht dann ein Predigtautomat, der sich nie mehr verspricht und es auch sonst besser kann als jeder Pastor. Autofahren sollen wir ja schließ­lich auch bald nicht mehr selbst. Darum philosophieren Autobauer und Juristen schon lange darüber, wer denn in Zukunft Schuld an Unfällen hat und für die Schäden aufkommen muss, wenn nur noch elektronische Rechner uns lenken.

Und selbst Waffen werden jetzt schon so konstru­iert, dass man Kriege künftig per Knopfdruck vom Wohnzimmer aus füh­ren kann, ohne das Blut und die Tränen der Vernichteten noch sehen zu müssen. Schöne neue Welt! Alles ohne Menschen! Alles sauber und clean! Alles ohne Körper, ohne Probleme, ohne Arbeit, Leid und Schweißgeruch. Schöne neue Welt! – Aber auch Gottes neue Welt?!

Liebe Gemeinde, in bin gewiss kein Fachmann in Sachen Digitalisie­rung. Sie birgt gewiss auch große Chancen, das will ich nicht abstreiten. Ich will die technische Entwicklung nicht generell verteufeln, auch wenn kriti­sche Geister jetzt schon zurecht warnen, dass diese Technologie, wie keine andere zu­vor, noch mehr Menschen ersetzen und Arbeitsplätze vernichten wird, als über­haupt neue geschafft werden können. Darüber allein ließe sich schon nachdenken. Mich interessiert heute Morgen aber noch eine andere Frage, die Frage hinter allen diesen Fragen:

Warum haben wir Menschen es offensichtlich so eilig, und sind fast alle so begeistert und fasziniert dabei, uns selbst als Menschen auf diesem Planeten langsam aber sicher überflüssig zu machen? Uns Schritt für Schritt zu ersetzen durch immer mehr Technik? Was treibt uns? Und warum wehrt sich keiner ernsthaft und wirksam? Warum wird alles gemacht, was man technisch machen kann, ohne schon vorher mal zu überlegen, was am Ende dabei eigentlich heraus­kommt? Kein gesunder Mensch würde sich doch ernsthaft in einen Zug setzen ohne zu wissen, wohin die Gleise führen? Wenn aber un­sere Technik im Spiel ist, schalten wir alle Alarmglocken einfach aus oder gar nicht erst an. Alles Neue scheint automatisch immer das Bes­sere zu sein. Ein Irrglaube ohne Ende!

Oder, wie Jesaja über die Men­schen seiner Zeit klagte: „Sie beten an das Werk ihrer Hände.“ Sie sind begeistert, ja berauscht von dem, was sie alles machen können mit ihren Händen und Köpfen! – Warum?

Warum ersetzen wir uns durch immer mehr Technik? Wirklich nur zur Arbeitser­leichterung oder um Lohn­kosten zu senken? Was ist das aber für eine Wirtschaft, in der wir Menschen, Du und Ich, nur noch als Kostenfaktor gesehen werden, bei manchen Oberen selbst in der Kirche! Was ist das für eine Politik, die uns einredet, wir Menschen seien zu teuer, einfach nicht mehr bezahlbar? Glauben wir schon selbst solchen Unsinn? Warum hinterfra­gen wir diese Logik nicht?

Auch sie ist Men­schenwerk! Sie funktioniert nach Regeln, die wir selber oder sie von uns Gewählten auf­gestellt haben, sie ist kein unab-änderliches Naturgesetz! Was passiert hier also wirklich mit uns?

Ich habe einen Verdacht, liebe Gemeinde. Prüft bitte selbst, ob er wahr ist. Ich glaube, wir ersetzen uns Menschen immer mehr durch Technik, weil wir im tiefsten Inneren unserer Seele und unserer westlichen Kultur Angst haben vor uns selbst, Angst vor unserer Leiblichkeit und Ge­brechlichkeit. Angst vor körperlicher Nähe. Angst vor der Begegnung mit realen Menschen. Angst vor Berührung, vor Gefühlen, Angst vor unserer Fehlerhaftigkeit. Angst vor Verwundbarkeit. Angst, nicht so gut zu funk­tionie­ren. Angst vor Mängeln und Makeln, die scheinbar abstoßend ma­chen. Angst vor der eigenen, selbstgesuchten Perfektion, der wir aber nie gerecht werden können. Aber wenigstens die Maschinen, das Werk unsrer Hände, die sollen das alles leisten und viel besser machen als wir! Weil wir wirklich glauben, dass die Maschinen am Ende besser sind als wir Menschen.

Mein Verdacht ist, dass wir eigentlich Unsterblich und Perfekt sein wollen oder müssen, am liebsten körperlos, zeitlos, geruch­los, gefühllos, und ewig und immer in Bewegung bei der Arbeit. Körper­licher Stillstand, Leerlauf erscheint uns als nutz­los, Einschränkungen er­leben wir als bedrohlich. Bloß niemandem zur Last fallen, obwohl doch Leben Lust und Last zugleich ist. So war es immer und so wird es auch bleiben. Körperlichkeit gilt aber dennoch bei uns eher als Hinder­nis, noch schneller voranzu­kommen. Am liebsten würden wir uns jede Minute hin und her beamen, den Körper auflösen, um überall und nirgends zugleich sein zu können: „Dieser dumme, hässli­che Körper, es ist so gar nichts Ewiges und Schönes und Dienliches an ihm! Er ist mir eigentlich ständig im Weg. Der Körper und alles Leibliche ist mein Feind! Er muss überwunden wer­den! Wie? Durch Technik!“

Wenn dem so ist, liebe Gemeinde, dann bauen und verehren wir gerade Systeme und Maschinen, die uns leibliche Menschen tatsächlich abschaf­fen werden, weil sie uns überflügeln sollen, weil wir meinen, wenigstens auf diese Weise zufrieden und stolz auf uns sein zu können. Wenn wir schon nicht die ewige Krone der Schöp­fung sein können, dann aber auf jeden Fall das Werk unserer Hände, die Technik: „Einfach Göttlich, was man damit alles kann!“

Tatsächlich? Ist die Entleiblichung und Entmenschlichung der Welt wirklich der Weg zum Paradies? – Was geht uns da alles verloren?!

Jesus, liebe Gemeinde, ist genau den umgekehrten Weg gegangen: Befreiung zur Leiblichkeit! Er wollte nicht von der Erde in irgendeinen Himmel höchster Perfektion aufsteigen, sondern hat den „Himmel Gottes“ auf die Erde gezogen. Er liebte und pflegte alles Sinnliche sinnlich. Alles Berührende und Verbindende. Ja, gerade auch alles Zarte, Verletzliche, Verwund­bare und auch alles Hässliche und Gebrechliche, das wir Menschen doch in Liebe, in leiblicher Zuwendung und Wertschät­zung so wunderbar pflegen und miteinander teilen können. Darin können wir wirklich Meister sein! Zweitgeborene! Abkömmlinge des Erstgeborenen der neuen Welt Gottes! Er hat uns den Weg gezeigt, uns bewiesen, dass es geht, uns vorgelebt, die Liebe zu allem Menschlichen und Gebrechlichen. Dazu gibt er uns auch die nötige Geistkraft und Klarheit, dass auch wir wieder den Menschen klar und deutlich sehen vor lauter Bäumen, die in den Himmel wachsen sollen.

Ein kluger Theologe unserer Zeit hat mal gesagt: „Nur endliche Wesen können auch geschwisterliche Wesen sein.“ (Fulbert Steffensky) Also jene Menschen, die ihre eigene Bedürftigkeit und die Bedürftigkeit an­derer von der Geburt bis zum Tod nicht mehr leugnen, sondern klar erken­nen und bewusst annehmen und miteinander ihre Bedürftigkeit teilen, die sind in der Lage, sich selbst und an­deren in ihrer menschlichen Endlich­keit nahe zu kommen, sich so zu berühren und zu stärken, wie Jesus den Blinden berührt und stärkt: Mit allen Sinnen der persönlichen, leibli­chen Wahrneh­mung und Wertschätzung. Einfach nur Heilsam!

Lasst mich vielleicht noch eines sagen zum Schluß: Wir wissen nicht, ob wir den Sog der Technik als Ersatz für den Menschen noch aufhalten können. Das walte auch Gott allein! Das können wir getrost ihm überlassen! Die Geschichte wird wie immer zeigen, was von unseren Menschenwerken tatsächlich vor ihm Bestand hat und was nicht. Und vielleicht braucht es wirklich erst den totalen Zusam­menbruch der Energiewirtschaft bis wir Menschen merken, dass menschliche Muskel- und Lie­beskraft keinen Strom aus dem Kraftwerk brauchen, nicht mal aus dem Solarkraftwerk, sondern nur die Energie aus Gott und aus einem Bund Möhren oder einem Teller Grünkohl. Alles andere kann, aber es muss nicht sein.

Bis dahin können wir als Geschwister des Erstgeborenen überall dort, wo der Mensch und das Menschliche gegen kalte Technik ausgetauscht werden, mutig die Stimme erheben. Denn wir sind das Volk! Wir sind die Menschen, um die es geht! Und wir, nicht die Technikkonzerne und Börsen und ihre Marionetten in der Politik ha­ben zu entscheiden, ob der Mensch der Technik dienen soll oder die Technik dem Menschen. Diese Stimme zu erheben, nicht allein, sondern gemeinsam, das ist unsere Aufgabe als Christen in dieser Welt.

Aber noch wichtiger als das ist wohl, wie wir als Menschen und Gemeinde sel­ber im Alltag leben. Wie berührt wir sind von den leiblichen Berührungen unseres Herrn gegenüber dem Blinden. Gelebter Mut zur Endlichkeit von Körper und Geist. Gelebter Mut, getrost ein Bruchstück, ein geliebtes Fragment bleiben zu dürfen, statt im Wahn zur Perfektion alles Mensch­liche und schließlich den Menschen selbst zu begraben. Mut zur Unrein­heit statt kalter Sterilität. Mut zur Begegnung statt wachsende Distanz. Mut, zu seinen eigenen leiblichen und seelischen Bedürfnissen und der Bedürftigkeit anderer zu stehen. Dann werden wir ebenfalls nicht mehr in unser altes, blindes Leben zurückkehren, sondern dem Ruf Jesu folgen: „Geh nicht erst zurück ins Dorf, geh gleich nach Hause!“ Geh dahin, wo deine Wurzeln sind, wo du als Mensch herkommst und vorkommst: Geh in die ewige Liebe zu allem Endlichen und Gebrechlichen! – „Und er sah alles ganz deutlich und klar!“ Amen

Hier die Predigt als PDF-Datei: M8 Heilung eines Blinden PDF