Andacht zu Muttertag und Kriegsende

Liebe Gemeinde,

gibt es in diesen aufregenden und aufgeregten Zeiten noch andere Themen als „Corona“? Im­mer mehr Menschen können es jedenfalls nicht mehr hören und leiden an der geistigen Verengung und Verarmung von Menschen und Medien. Gibt es Alternativen?

An diesem Wochenende z.B. den sonntäglichen Muttertag und zugleich die 75-jährige Erin­nerung an den 8. Mai 1945, Kriegsende in Deutschland durch die Kapitulation des Nazi-Mili­tärs. Für die einen im­mer noch ein dunkles, möglichst schnell zu vergessendes Ereignis „deut­scher Schande“,  für alle De­mokraten – spätestens seit der mutigen, Zeichen setzenden Rede Richard von Weizäckers vor dem Deutschen Bundestag am 8. Mai 1985 – gilt dieses Datum als unverzichtbarer Feier- „Tag der Befreiung“ aller Deutschen, befreit von Willkürherrschaft, Terror und Totschlag. Sie waren heraufbeschwo­ren worden durch gottvergessene Selbstanbetung, durch „Heil“-trunkene, blinde und bereitwillige Un­terwerfung jedes einzelnen Menschen und dadurch eines ganzen Volkes unter das Sicherheit- und Arbeitsplätze versprechende System eines völkisch begrün­deten Fremden- und Rassenhasses. Von Beginn an hatte dieser Hass den industriellen Völker­mord systematisch vorbereitete und auch eiskalt, in „deutscher Gründlichkeit“, vollstreckt. Wer das Ende dieser Zeit heute nicht zuerst und vor allem als „Befreiung“ sehen kann, dem ist wohl kaum noch zu helfen außer durch Beten.

Spätestens heute, nach diesem Irrsinn, sollten wir eigentlich auch erkannt haben, dass die berühmten „Se­kundärtugenden“ wie Sauberkeit, Fleiß, Genauigkeit, Pünktlichkeit, Verlässlichkeit, Zielstre­bigkeit etc. gefährlich zweideutig bleiben, wenn sie nicht an Gottes Barmherzigkeit und Recht gebunden sind. Dass z.B. die Sinnhaftigkeit des Religionsunterrichts an den Schulen heute bei Eltern und Lehrern immer mehr infrage gestellt wird („Ist ja nicht so schlimm, wenn Reli wieder ausfällt, bei anderen Fächern würde ich schon was sagen!“), hat auch damit zu tun, dass immer weniger sich „an damals“ erinnern und darum nicht mehr im Blick haben, dass ich mit einer guten Mathe-Zensur sowohl ein Altersheim wie auch ein Konzentrationslager „erfolgreich“ führen kann, hier zur Bewahrung der Menschenwürde trotz steigender Kosten und durch falsche Sparpolitik ausgelaugtem Personal, dort zur genauen Berechnung und Aus­beutung menschlicher Arbeitskraft bis zum einkalkulierten Tod. Ein guter Matheschüler wird beides unterschiedslos können und tun, solange sein Gewissen nicht an etwas größeres als die eigene Macht und Rechenkunst gebunden ist und „frei“, d.h. aber in Wahrheit in tiefer Verlorenheit und Entfremdung von allem Menschlichen, umhertaumelt.

Muttertag und Nazi-Geist hängen eng zusam­men.  Zwar ist der Muttertag keine Erfindung der Nazis, Mütterverehrung geht bis in die griechische Antike zurück. In Deutschland war es aber der Verband der deutschen Blumengeschäftsinhaber, der 1923 auf Plakaten für die Ein­führung eines Muttertags warb. „Nachtigall ick hör dir trapsen!“ Diese rein wirtschaftlich orientierte „Vorarbeit“ nutzten die Nazis später geschickt als Grundlage ihrer Idee von einer „germanischen Herrenrasse“. Besonders kinderreiche Mütter wurden als „Volksheldinnen“ hochstilisiert, Frauen wurden gezielt gefeiert und instrumentalisiert als Gebärmaschinen für den „ari­schen“ Staat und seinen Nachwuchs. Dieser Frauen-Missbrauch wurde mit „Mutterkreuz-Or­den“ und einem ersten offiziellen „Ehrentag“ für die „deutsche Mutter“, erstmals am 3. Mai­sonntag 1934, geschickt übertüncht. Wir merken, Muttertag und kriegerische Kultur hängen nicht nur terminlich, sie hängen auch inhaltlich eng zusammen in unserem Land!

Warum wird der Muttertag dann trotz allem kritischen Feminismus der vergangenen Jahre immer noch gefeiert? Gibt es neben den Geschäftsinteressen der Blumen- und Pralinenindustrie und dem Men­schen- und Frauenbild ewig Gestriger auch noch einen positiven Sinn?

Ich erinnere mich, wie unsere beiden Töchter aus Kindergarten und Schule mit selbstgemalten Bildern und Bastelgeschenken stolz nach Hause kamen, um ihrer Mutter etwas besonders zu schenken, weil ihre Mutter für sie besonders war, und gottlob auch immer noch ist. Als Mann und Vater ist das nicht immer leicht auszuhalten, wenn trotz eigener Liebe und Offenheit ge­genüber den Kindern, die Schulsorgen immer zuerst bei der Mutter zur Sprache kamen. Ähnlich überflüssig muss sich wohl auch der alte Joseph vorgekommen sein, als seiner Verlob­ten Maria ein Kind zugetragen wurde, dessen „Ursprung“ ein anderer war. Dafür scheint aber die nicht immer leichte „Abnabelung“ eine Aufgabe zu sein, die Müttern und Kindern wohl zeitlebens aufgetragen ist. Ein bisschen ausgleichende Gerechtigkeit aus väterlicher Sicht tut ja auch mal ganz gut! Und den „Vatertag“ gibt es an Himmelfahrt für uns ja auch noch, nicht etwa zum sinnlosen Besäufnis, das für manchem jedes Jahr wieder neu wie ein „Himmelfahrtskommando“ endet. Wir können diesen Tag gemeinsam mit unseren Kindern kreativ gestalten. Denn „Vater“ sind wir ja nicht aus uns selbst und für uns selbst. Es sind unsere Kinder, die uns erst zum „Vater“ machen, die uns das Vatersein schenken in allen Tiefen und Höhen! Welch ein Reichtum an Leben! Danke, ihr Kinder der Welt!

Die Muttertags-Geschenke unserer Kinder wurden in ihren wichtigen Lebensräumen außerhalb des Elternhauses von engagierten und besorgten Menschen erdacht und angeleitet. Wie gut, dass es mehr als die Kleinfamilie gibt! Ihre Geschenke sollten Wertschätzung zeigen für jemanden und etwas, das wir leicht als Selbstverständlichkeit vergessen, und das doch für die Entwicklung zur Menschlichkeit eines jedes Menschen und einer ganzen Gesell­schaft unverzichtbar ist.

Der Liedermacher Hermann van Veen hat dieses wunderbare „Etwas“ in einem Lied besungen (vgl. abgedruckten Link), das wir selber wohl nur entdecken können, wenn wir seine kindliche (nicht kindische!) Grundhaltung teilen und staunend mitsingen:

„Alles, was ich weiß, weiß ich von einem andern, und alles, was ich lass’, lass’ ich für einen andern, alles, was ich hab’, ist ein Name nur, den hab’ ich von einem andern….

Alles was ich sag’, sag’ ich einem andern, und alles, was ich geb’, geb’ ich einem andern, alles was ich hab’, ist ein Name nur, den hab’ ich von einem andern…

Die Hand, die ich geb’, geb’ ich einem andern, und die Tränen, die ich lass’, wein’ ich um einen andern, den Sinn, den ich hab’, hab’ ich in einem andern, und die Liebe, die ich fühl’, ist für einen andern. Nur meine Gänsehaut ist von mir selbst!“

Trotz dieser tief berührenden Wahrheit werden kleine Kinder in unseren Kul­turkreis merkwürdigerweise fast ausschließlich dann gelobt, wenn sie etwas alleine vollbracht haben. „Das kannst du ja schon ganz alleine!“ Nichts gegen eine gesunde Selbstständigkeit. Doch wenn sie sich zum Ideal völliger Autonomie des Menschen verkehrt, wenn sie Unabhängigkeit von allen und allem anderen als höchstes persönliches und gesellschaftliches Ziel anstrebt, und Ange­wiesensein auf andere dementsprechend eine um jeden Preis zu vermeidende Schwäche wird, dann ist Gefahr im Verzug. Denn die Grundhaltung der völligen Autonomie, die Los­sagung von der grundlegenden emotionalen und sozialen Mit-Menschlichkeit des Menschen, seiner wesensmäßigen und keineswegs nicht nur zufälligen, auch mal zu vernachlässigenden Verbindung zum anderen, machte die Entmenschlichung des Menschen bei Nazi-Opfern und -Tätern gleichermaßen erst möglich! Der inszenierte Mutter­kult verhinderte gerade die Erfahrung, selber ein Mensch nur durch andere und für alle anderen Menschen zu sein!

Es kann uns umgekehrt in der Tat eine Gänsehaut verschaffen, wenn wir zu ahnen beginnen und einmal wirklich in Ruhe und Klarheit bedenken, wie sehr unser Leben eben nicht aus uns selbst kommt, sondern in besonderer Weise von dem Menschen abhängt, die uns trotz Schmerzen zur Welt gebracht hat, die uns mehrfach täglich die Windeln gewechselt und gewaschen hat, auch wenn sie noch so übel rochen, der uns früh am Morgen das Schuldbrot geschmiert hat, auch wenn die Nacht wieder mal keine war am Bett der fieberkranken Ge­schwister. Die Kette ließe sich bei vielen von uns von den Hausaufgaben bis zur Hoch­zeitsvorbereitung und noch darüber hinaus weiterführen. Kurzum: Wir stehen wir mit unse­rem Leben eben nicht nur auf eigenen Füßen. Unter unseren Füßen ruhen die Schultern derer, die vor uns waren und für uns lebten! Ist das nicht ein täglicher Grund in tiefer Freude dankbar zu sein, selbst noch unter der Gesichtsmaske? Durch sie hindurch?

Doch wir schauen eher in viele trübsinnige Gesichter. Wir  ehren und beneiden heute eher die soge­nannten Self-Made-Typen, die es aus eigner Kraft „zu etwas gebracht“ haben, als könne ein erfolgreicher Manager ernsthaft ohne den täglichen Einsatz und die Fantasie seiner Mitarbei­ter*innen leben. Manche unter uns schießen auch ständig „Selfies“ mit dem Smartphone, Fotos, mit denen sie sich selbst täglich inszenieren, mein Urlaub am Strand, mein Essen auf dem Teller.  Eltern lichten sich sogar mit den Zeugnissen ihrer Kinder ab, natürlich nur, wenn sie „gut“ sind und zum Aufpolieren des eigenen Egos nützen. Durch all das tun wir so, als hätten wir das alles selber bewirkt, als würden wir uns selbst erschaffen, und merken die große ohn-menschliche, aso­ziale und einsam machende Lüge des „Ich-brauche-Niemanden“ gar nicht mehr. Wir haben uns offenbar in dieser Lebenslüge fröhlich aber mit zunehmender Beziehungslo­sigkeit und Vereinsamung eingerichtet. Wie soll denn einer wirklich beachtet werden, wenn jeder beachtet werden will aber niemanden anderen mehr beachtet? Erst wenn wir von uns absehen und den anderen ansehen, wird das Leben doch lebendig, wachsen Zufriedenheit und Sinn.

Und die, die uns zur Welt gebracht und ins Leben geführt haben, die dieses Land aus hoffnungslosen Ruinen Stein für Stein herausge­pickelt haben, die den Wohlstand schafften, von dem wir bis heute gedankenlos zehren, die Dich und mich überhaupt erst möglich gemacht haben, die isoliert man heute, überlässt sie weitgehend sich selbst, auch schon vor Corona. Ist das, was wir uns heute gerne als „reine Schutzmaßnahme“ erklären, vielleicht in Wahrheit nur eine phantasielose oder angstgeleitete Ausrede in einer Krise, die wir durchaus kontaktfreudiger und mit-menschlicher gestalten könnten? Vor allem dann, wenn wir den Gedanken wieder zuließen, dass pure aber in Einsam­keit dahindümpelnde Lebenslänge vielleicht weniger erstrebenswert ist als volle Lebensquali­tät durch menschliches Miteinander und Füreinander zwischen Jung und Alt, selbst wenn diese gelebte Nähe und Verbundenheit vielleicht ein paar Tage weniger Leben bedeutet? Jeder prüfe sich selbst. Aber wir wollten ja nicht nur über Corona nachdenken…

Besonders das Wort „Mutter“ (aber auch „Vater“) erinnert uns an unsere wahre Herkunft und Zukunft, an unser menschlich-soziales Sein in seiner ganzen Tiefe, Breite und Wahrheit als von anderen und durch andere gezeugte und ins Leben geführte Menschen. Das hebräische Wort für „Gebärmutter“ bedeutet darum zugleich auch „Barmherzigkeit, Schutz, Geborgenheit“. So kann und soll unser Woher zugleich das Wohin unseres Lebens leiten und prägen.

Im heutigen Ergehen unserer alten Mütter (und Väter) können wir darum auch unsere eigene Zukunft betrachten. Schauen wir darum genau hin, wie es ihnen heute geht und halten Kontakt um ihre drohende Vereinsamung zu bekämpfen. Und schauen wir sie vor allem solange an, bis auch wir sagen können: „Alles, was ich hab und bin, bin ich durch einen anderen!“ Dieses Wissen, die Bibel nennt es „Glauben“ – Leben in der elementaren Beziehung zu Gott und den Menschen, führt in eine neue, von jeder Ideologie befreite universale und internationale menschliche Sozialität und Solidarität, die einen „nationalen Sozialismus“, der nur egoistisch und damit zerstörerisch sein kann, einfach nicht mehr nötig hat.

Nicht umsonst reden wir auch von „Mutter Erde“ und erinnern und damit auch an das ökologische Netzwerk allen Lebens, das durch unseren auto­nomen Lebensstils so sehr in seinem Fortbestand bedroht ist. Wir brauchen keinen alten neuen Mutterkult aus wirtschaftlichen oder völkischen Motiven, der sich zudem nur an einem Tag der Jahres Mühe gibt. Was wir wohl brauchen, ist tägliche und wahre Gottes- und Menschen­kenntnis, die aus der staunenden Dankbarkeit, wenn sie im Blick auf die Lebens­dienste der eigene Mutter, des eigenen Vaters, eben mit Gänsehaut feststellt: „Alles, was ich hab, alles, was ich bin, bin ich durch einen anderen!“  Die elterliche Liebe und Verbundenheit führt uns am Ende zur Verbundenheit mit Gott. Unser Leben ist von Anfang bis Ende das Geschenk anderer und kein Selfie! Die tiefe Demut, die uns aus diesem neuen Sehen erwächst, wird uns vor jeder Hybris und Gewalt gegen Menschen und Völker bewahren!

Das können wir uns tatsächlich  an unseren zehn Fingern abzählen, um die  Quelle der eigenen Menschlichkeit niemals zu vergessen, sondern täglich und reichlich aus ihr schöpfen zu können. Darum beginnt die zweite Tafel der Zehn Gebote Mose (2. Mose 20, 1-17), die das soziale Miteinander der Menschen ordnet, nicht etwa mit dem Gebot „Du sollst nicht tö­ten!“ Viele meinen bis heute, dieses Verbot sei das wichtigste für zwischenmenschlich gelingendes Le­ben. Die zweite Tafel beginnt aber bewusst mit einer grundlegend positiven Erinnerung an die eigenen Lebenswurzeln: „Du sollst Vater und Mutter ehren!“ (2. Mose 20, 12) Kein Leben, keine Frieden also zwischen den Menschen ohne Friede zwischen den Generationen, ohne das auch ganz persönliche Bewusstsein: Ich bin selber nur durch andere und für andere da oder ich bin gar nicht! Mit anderen Worten: „Der Mensch ohne den Mit-Menschen ist der Unmensch, das Ge­spenst des Menschen.“ (Karl Barth). Kein blinder kindlicher Gehorsam über Obrigkeiten wird uns hier also geboten, wie Luther fälschlich auslegt. Es geht vielmehr um Selbsterkenntnis durch Respekt, Wertschätzung und Dankbarkeit gegenüber denen, die uns den Weg ins Leben geebnet haben. An unserer täglich geübten Achtung gegenüber unseren schwach und alt gewordenen Müttern (und Vätern) wird erkennbar, ob und in welchem Maße wir Gott und damit auch uns selbst ernstnehmen und dienen.

Und kleinen Kinder motivieren wir zu solcher Elternliebe für die Zeit unseres Alters am besten, indem wir sie schon als junge Eltern so behandelt, so dass sie uns auch im Alter noch gerne sehen und achten möchten! Auch durch einen Lebensstil, der unseren Kindern nicht länger die Zukunft raubt und unseren Alten Würde, Zeit und neue Luft zum Atmen schenkt.

So wird alter Friede bewahrt und neuer Friede wachsen zwischen den Generationen und Völ­kern, so bekommen Muttertag und Gedenktag zum Kriegsende wirklich etwas gemeinsam Po­sitives, etwas feierlich Befreiendes, das uns allen in der Tat eine Gänsehaut bescheren möge, gerne auch mit Bonbon, Blumen und eigener Bastelei.

In diesem Sinne wünsche ich uns allen ein gesegnetes Wochenende an diesem denkwürdigen 8. und 10. Mai 2020.

Ihr/Euer Bert Gedenk