6. August 1945 – Hiroshimatag 2020

Ansprache zum 75-jährigen Gedenken des amerikanischen Atombombenabwurfs auf Hiroshima am Ginkgo-Baum-Denkmal

Gedenkfeier in Kooperation von Stadt Emden, Friedensforum Emden und Ökowerk Emden

 

Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister, liebe Friedensfreund*innen,

Alles, was namenlos ist oder namenlos gemacht wird, ist für uns Menschen gesichtslos, geschichtslos, ohne Mitgefühl und Bedeutung. Alles Namenlose können wir darum leichter töten und vergessen. Gegen das Vergessen und Töten haben wir heute Morgen die Namen und Geschichten dreier Kinder aus Hiroshima gehört:  Hidehiko, Masoa und Katsutoshi. Haben wir sie auch erhört? Ihre Leiden als Frage und Klage an uns heute herangelassen?

Diese drei Kinder-Namen stehen für die Überlebenden von Hiroshima. Viele Überlebende haben die Toten damals beneidet. Hatten die Toten die Hölle doch schon hinter sich, sie aber ein ganzes Leben voller körperlicher, seelischer und sozialer Qualen noch vor sich. Die Schäden der radioaktiven Strahlung in ihrem Erbgut gingen und gehen immer noch von Kind auf Kindeskind über. Wenn wir heute die Namen der Opfer erinnern, wollen wir ihnen zumindest einen Teil ihrer geraubten Würde zurückgeben. Ihr stiller Schrei nach dem „Warum?“ will weiter ausgehalten werden, so schwer es uns auch fällt. Denn dieser drängende Schrei kann uns helfen, nach den tieferen Ursachen dieser Menschheits-Katastrophe zu fragen und Wege ihrer künftigen Vermeidung zu finden. Das sind wir ihrer und unserer eigenen Menschenwürde schuldig, und ebenso unserer eigenen Zukunft in Gestalt aller Kinder dieser Welt.

Drei weitere Namen lesen wir heute an der aufgestellten japanischen Laterne: Shigemi, Reiko, Misako. Sie haben den 6. August 1945 mit Abertausenden anderen nicht überlebt. Im Bruchteil einer Sekunde wurde ihr Leben zu Asche. Verbrannt von einem Monster, das unsere, die sogenannte „westliche Zivilisation“, erschuf und einsetzte. Nicht nur, um einen Krieg schnell zu beenden, wie ich noch in der Schule lernen sollte. Vielmehr, um die vermeintliche Überlegenheit und Macht unserer westlichen Kultur in einem Experiment großflächig testen und der übrigen Welt eindrücklich demonstrieren zu können. Hiroshima war eine laborartig vorbereitete und durchgeführte, politische, militärische, wirtschaftliche und medizinische Versuchsanordnung! Die Bewohnerinnen und Bewohner der Stadt waren in den Augen der demokratisch legitimierten Regenten Englands und der USA Versuchskaninchen, bloße Objekte eines tränenfrei gemachten Wissensdranges, Ausdruck eines ungezügelten und schamlosen Strebens nach Erkenntnis, nach Fortschritt, nach Macht und grenzenloser Überlegenheit, endlich so sein zu können wie Gott! Das Testgelände der ersten Atombombe in der Wüste des US-Bundesstaates New Mexiko bekam darum den Namen: „Trinity“ – Trinität. Der militärisch-industrielle Komplex verstand sich also samt seiner politischen Helfershelfer als Vollstrecker eines irgendwie gearteten „dreieinigen Gottes“, christlich oder hinduistisch geprägt, so vermuten die Historiker. Ja noch mehr: Dieses System der Macht gab sich offenbar selbst als Gott aus! Religion – wieder mal – nicht als gelernte und gelebte Ehrfurcht vor allem, was lebt, sondern als selbstgerechte Rechtfertigung dessen, was nicht gerechtfertigt werden kann. Religion als Ausdruck unfassbarer Selbstanbetung der eigenen Kultur durch Auslöschung der anderen. Die Kirchen und Regierungen des Westens schwiegen weitgehend zu dieser inszenierten Gotteslästerung.

So stehen Shigemi, Reiko und Misako heute stellvertretend für ungezählte, nicht durch Naziterror, sondern durch westlichen Herrenmenschengeist verbrannte Menschen. Ihre Asche klebt bis zum geschichtlichen Ende der Menschheit unsichtbar aber unabwischbar an jedem von uns, ob wir wollen oder nicht. Sie klebt nicht als Schuld an uns Nachgeborenen, sondern in Gestalt einer unausweichlichen Frage, der wir alle uns zu stellen haben, jeden neuen Tag, wenn wir noch eine Zukunft auf diesem Planeten haben wollen. Die Asche der drei fragt uns: „Wer bist du, Mensch, dass du solche Macht und Überlegenheit meinst brauchen zu müssen und gebrauchen zu dürfen?“  Wer sind wir? Du und ich? Wir alle?

„Zur Friedenssicherung“ bräuchten wir solche Waffen, wird uns ungebrochen weitererzählt. Darum sei ein Verzicht auf die „atomare Teilhabe“ heute auch naiv und verantwortungslos. Nur wer Atomwaffen habe, könne auch mitreden bei ihrer Abschaffung, so tönt es heute immer noch aus dem Munde der Atomgläubigen in Ost und West. Keiner will natürlich einen Atomkrieg, aber jeder will die Bombe am liebsten behalten oder haben. „Zur Sicherheit“, wird behauptet.

Aber Atomwaffen und Sicherheit, das ist ein Widerspruch in sich selbst. Atomwaffen sind keine Verteidigungsmittel wie andere, nur stärker. Atomwaffen sind zynische Massenvernichtungsmittel mit apokalyptischer Wirkung für den Fortbestand allen bekannten Lebens auf dieser Erde. Sie zerstören alles und restlos, was sie zu schützen vorgeben. Das Versagen ihrer Abschreckungswirkung ist nur eine Frage der Zeit. Herren-menschengeist hat immer schon gemacht was er wollte, allein darum, weil er es konnte, egal ob bei Demokraten oder Diktatoren. Ein Blick über den Atlantik heute lässt uns das klar erkennen. Atomwaffen bleiben eine unsichere Bedrohung für uns alle, weil früher oder später jemand aus Versehen, durch Machtstreben oder einfach aus gekränkter Eitelkeit auf den roten Knopf drücken wird. Oder – wie bereits mehrfach geschehen – weil fehlerhafte Computer einen atomaren Angriff vermelden, den es gar nicht gibt, und dieser Computer neuerdings auch gleich den Vergeltungsschlag automatisch mitauslöst. Denn unser hochmütiger und uns selbst gegenüber zugleich kleinmütiger Technikglaube hat längst dazu geführt, dass wir in nahezu allen Lebensbereichen gerade im Begriff sind, unsere Freiheit und unsere menschliche Größe und Würde als eben Fehler machende und verantwortliche Wesen an scheinbar „leistungsfähigere“ Logarithmen abzugeben. Atomwaffen sind darum heute erst recht eine bleibende Unsicherheit und Geißel der Menschheit. Darum fragt uns die Asche der Toten heute umso drängender: „Wer seid Ihr“ Wer sind wir? Und wie wird wirklich Frieden?

Genau so fragte auch der deutsche Theologe und Widerstandskämpfer Dietrich Bonhoeffer. Auch seine Ermordung durch Herrenmenschengeist 1945 bedenken wir in diesem Jahr zum 75. Mal. Schon 1934, in der Blütezeit des Nationalsozialismus, ahnte, ja sah er, was auf die Welt tatsächlich zukam, weil er die Zeichen der Zeit lesen konnte. Seine Friedensrede auf der dänischen Insel Fanö ist bis heute in Kirche und Gesellschaft unerhört und wegweisend zugleich. „Wie wird Friede?“, fragt er die damals Versammelten. Durch ein System von politischen Verträgen? Durch Investierung internationalen Kapitals in den verschiedenen Ländern? D. h. durch die Großbanken, durch das Geld? Oder gar durch eine allseitige friedliche Aufrüstung zum Zweck der Sicherstellung des Friedens? Nein, durch dieses alles aus dem einen Grunde nicht, weil hier Friede und Sicherheit verwechselt werden. Es gibt keinen Weg zum Frieden auf dem Weg der Sicherheit. Denn Friede muß gewagt werden, ist das eine große Wagnis, und läßt sich nie und nimmer sichern. Friede ist das Gegenteil von Sicherung. Sicherheiten fordern heißt Mißtrauen haben, und dieses Mißtrauen gebiert wiederum Krieg. Sicherheiten suchen heißt sich selber schützen wollen. Friede heißt sich gänzlich ausliefern dem Gebot Gottes, keine Sicherung wollen, sondern in Glaube und Gehorsam dem allmächtigen Gott die Geschichte der Völker in die Hand legen und nicht selbstsüchtig über sie verfügen wollen.“

Wollen wir als Menschheit darum wirklich überleben, wird dieses „Wagnis des Friedens“ heute wohl aus vier praktischen Schritten bestehen müssen:

  1. Schritt: Geistige Erneuerung: Wir erkennen endlich an, dass wir Menschen, auch und gerade wir im Westen, nie als „Krone der Schöpfung“ gedacht waren, sondern als Verwalter und Bewahrer des Lebens eines Größeren und Höheren als wir selbst, dem wir uns verdanken, und dem wir uns darum auch zu verantworten haben. Damit üben wir die tägliche Absage an jede Spielart des Herrenmenschengeistes ein und treten persönlich wie gesellschaftlich ein für eine Kultur der Ehrfurcht vor allem Wir geben unser Ideal einer unverwundbaren Sicherheit bewusst auf, und gehen das tägliche Wagnis der eigenen Verwundbarkeit ein, nehmen uns gegenseitig – privat und in der Völkerwelt – als verwundbare Menschen an und gestalten so wahrhaft menschliches und mit-menschliches Leben. Wir erkennen, dass die Friedensfrage in diesem Sinne zur Überlebensfrage auf dieser Erde geworden ist, und geben ihr in allen Lebensbereichen Vorrang vor allem anderen.
  2. Schritt: Neues Verständnis von Sicherheit. Wir treten nicht länger für eine Sicherheit durch atomare und militärische Abschottung vor den anderen ein, sondern für das Konzept einer gemeinsamen Sicherheitspartnerschaft mit allen anderen, auch und gerade mit dem Feind. Gutes und Böses gibt es bei ihm wie bei uns. Wir suchen darum die Begegnung und das Gespräch mit dem Feind auf Augenhöhe.
  3. Schritt: Weltweite Ächtung. Wir treten mit unserem Leben konsequent ein für die weltweite Ächtung aller Atomwaffen und fordern verstärkt den immer noch ausstehenden Beitritt Deutschlands zum Atomwaffenverbotsvertrag der Vereinten Nationen. Dadurch stärken wir das Völkerrecht als weltweit einzige befriedende Kraft, die wir haben, und ordnen unsere nationalen oder bündnisorientierten Machtinteressen dieser Kraft deutlich unter.
  4. Schritt: Eigene, einseitige Abrüstung. Wir treten für das Wagnis einer einseitigen, weil nur so glaubwürdigen und Vertrauen stiftenden atomaren Abrüstung aller Atommächte der NATO ein und brechen auf diese Weise unmissverständlich mit unserer eigenen Macht-, Bedrohungs- und Zerstörungsgeschichte. Dazu gehört auch die Verstärkung der Forderung an unsere Regierung, den schon vor 10 Jahren vom Deutschen Bundestag beschlossenen Abzug aller amerikanischen Atomwaffen von deutschem Boden (Büchel) endlich auch praktisch umzusetzen und so den erklärten Willen unseres Volkes auch endlich zu tun! Gerade durch den einseitigen Verzicht auf jegliche Massenvernichtungsmitttel entziehen wir allen anderen die moralische und praktische Rechtfertigung, solche Waffen noch selber haben zu müssen und ermutigen sie uns nachzufolgen.

Gewiß: Auch auf diesem Wege gibt es keine Friedensgarantie. So naiv dürfen wir nicht sein, wenn wir uns selbst erkennen und aushalten. Aber wir dürfen gewiss sein, dass dieses dauerhafte Friedenswagnis unserer Zukunft mehr dienen wird als alles bisher Bekannte und Praktizierte.  So, aber wohl nur so, wird die Menschheit, werden wir selbst vielleicht doch noch auferstehen aus der Asche von Shigemi, Reiko und Misako.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit!

(Bert Gedenk)